Ich verließ meine Wohnung kurz nach 18 Uhr. Im Treppenhaus hörte ich aus einer Nachbarswohnung zum ersten Mal in diesem Jahr „Last Christmas“ von Wham tönen. Na super, ich war doch sowieso schon schlecht gelaunt. Warum schon im November? Im Dezember muss ich das bestimmt doch schon ungefähr 200mal hören. Jetzt fehlt nur noch „All I want for Christmas is you“ von Mariah Carey und ich raste vollkommen aus. Dann gibt es dieses Jahr keine Geschenke, liebe Kinder.

Ja, damals war Mariah Carey noch jung, noch nicht vollkommen psycho und hatte bedeutend kleinere Brüste. Deswegen singt sie mittlerweile auch nicht mehr so hoch. Nicht, dass die platzen.

Auf dem Weg zur S-Bahn (oder U-Bahn, Straßenbahn oder was auch immer, um hier nicht wieder eine Diskussion der Kommentier-Pedanten loszutreten) kam ich an der Stehcafé-Bäckerei vorbei, und die hatten schon auf einem der Hocker einen Plüsch-Weihnachtsmann von der Größe eines Jahrmarkt-Hauptgewinns platziert. Der kam wie gerufen, ich betrat die Bäckerei um dem Teddy mal kurz in die Fresse zu schlagen und ihm vom Hocker zu kicken. Das tat gut.

An der S-Bahn-Station wurde mir wieder klar, was der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist: Frauen können zwei Dinge gleichzeitig. Auf den Bahnsteig kam eine junge wasserstoffblondierte Tussi, die auf den Fahrplan schaute und gleichzeitig sich Ansteck-Ohrringe an die Ohrläppchen heftete. Nun ja, Männer müssen sich ja auch keine Ohrringe anstecken und auch keine Fahrpläne lesen. Zumindest nicht, wenn man schon am Gleis steht, zu spät kommen kann man dann ja nicht mehr.

Ein junger Mann nahm die Blondine sofort wahr und überlegte, wie er ein Gespräch starten konnte. Nach einigen Minuten fiel ihm etwas ein und er ging auf Blondie zu: „War die 16 schon da?“ Zu seinem Glück war der Blondine nicht bewusst, dass der Typ schon länger als sie am Gleis stand und es wohl besser wissen musste. Sie antworte: „Ja, die ist schon fort.“ Genau in dem Augenblick fuhr die 16 ein und verursachte einen kurzen Moment der Peinlichkeit. „Oh, doch nicht“, war ihr Rechtfertigungsversuch.

Da hätte die aufkommende Romanze schon im Keim erstickt werden können, der junge Mann gehörte sowieso zu den Typen, auf die die Menschheit gut und gerne verzichten kann. BWL-Student, gegelte Haare, konservativ, aber noch nicht konservativ genug, um in einer Burschenschaft zu fungieren, allerdings wahrscheinlich in irgendeiner Funktion von Papas Karnevalsverein, Kassenwart oder so. Schwarze Jeanshose (die wo so weiße Fäden durchschimmern, igittigitt), Nike-Turnschuhe und dazu passende Nike-Sport-Winterjacke, im Karstadt gekauft. Außerdem eine aggressive Fresse, mit der er freundlich dreinzublicken versuchte, der Frau wegen. Im Grunde genommen wie Carsten Spengemann.

Die Romanze war aber noch nicht vorbei. In der Bahn saßen sie sich gegenüber und der BWLer startete einen neuen Versuch, als die Tussi ein Buch, sogar mit Buchstaben und wenig Bildern, auspackte: „Darf ich fragen, was das ist?“ Jeder halbwegs intelligente Mensch würde darauf mit ja oder nein oder mit „Ein Buch, Du Depp!“ antworten, aber die Blondine stieg voll darauf ein und es entwickelte sich ein Gespräch aus dem ich lernen konnte, dass sie gerade angefangen hatte an irgendeiner Business-Schule Tourismusmanagement zu studieren und er schon seit 7 Semestern BWL studierte und dass beide miteinander schlafen würden. Gut, dazu kamen sie nicht, die Fahrt war ja nur kurz und alle beide hielten sich am Smalltalk fest und kamen keinen Schritt weiter. Als sie ausstiegen und in unterschiedliche Richtungen am Hauptbahnhof weiter mussten, kam nur ein „war ein schönes Gespräch mit Dir“ über die Lippen der Frau. Diese beiden Turteltauben haben wohl ihre Chance verpasst und werden sich nie wieder sehen. Außer vielleicht am Wochenende in der Nachtschicht, Kölns Danceclub und Discostadl.

Am Bahnhof hatte ich noch etwas Zeit in der DB-Lounge ein paar Softdrinks kostenlos zu mir zu nehmen. Also machte ich mich auf den Weg durch das Reisezentrum. Am Eingang ist dort ist seit kurzem ein Pult aufgebaut, an dem ‚Empfang‘ geschrieben steht, dahinter eine Bahnmitarbeiterin ohne weitere Funktion. Sie sagte noch nicht mal „Guten Tag“ oder irgendeine Begrüßungsfloskel. Sie hätte einem den Weg zu den Fahrkartenschaltern zeigen können, das wäre aber unnötig, das Reisezentrum besteht ja aus nichts anderem. Also war die einzige Funktion der Dame, keine Fahrkarten zu verkaufen, damit an den echten Schaltern die Leute noch länger anstehen müssen.

Neben der Empfangslady stand eine weitere Frau, in Smalltalk mit ihr vertieft. Diese trug eine rote DB-Jacke, hinten mit einer Aufschrift: „Die Fahrkartenautomaten für den Nah und Fernverkehr. Jetzt ausprobieren.“ Abgesehen davon, dass der Nah- und Fernverkehr einfach der Verkehr ist, also der Werbetexter, der sich das ausgedacht hat mal wieder kaputt war, muss man sich mal die Aussage der Jacke auf der Zunge zergehen lassen. Diese Frau kennt keine Scham. Wer trägt freiwillig eine Jacke, auf der so gut wie folgendes steht: „Hallo, ich bin ein Mensch. Ich bin ersetzbar. Soll ich Ihnen zeigen wie?“

Auf dem Weg zu den Gleisen kam ich an einem Automaten vorbei, vor dem ein Mann stand, der ziemlich ratlos auf den Bildschirm schaute. Zum Glück stand daneben eine weitere Frau, mit einer ähnlichen roten Jacke wie die Schamlose, allerdings mit der viel simpleren Aufschrift „Automatenhilfe“. Leider schaute auch diese ziemlich ratlos drein. Jetzt mal im ernst, liebe Bahn. Wenn Eure Fahrkartenautomaten so kompliziert sind, dass man menschliche Mitarbeiter braucht, die den Bahnkunden helfen, diese zu bedienen und dabei selbst an die Grenzen ihres Könnens stoßen, ist es dann nicht ein wenig redundant, diese Automaten überhaupt zu haben? Aber wenigstens stellt ihr echte Menschen hin, die man anfeinden kann, wenn der Computer nicht so will, wie man selbst. Wäre ja noch schöner, wenn der Fahrkartenautomat eine sprechende Büroklammer hätte oder was ähnliches.

Nun zur eigentlichen Fahrt. Um 19:12 musste ich an Gleis 4 in einen ICE steigen, der 20:20 Uhr in Dortmund ankommt, wo ich dann in einen EC wechsle. Der Brüller. Warum? Weil der EC in den ich dort um steige um 19:11 am Gleis 5 vom selben Bahnsteig in Köln losfuhr. Die Option gleich in den EC zu steigen wurde mir beim Fahrkartenkauf nicht gegeben. Wahrscheinlich um den ICE-Zuschuss einzukassieren. Und um mich noch mal extra umsteigen zu lassen. Mittlerweile hat die Bahn nämlich persönlich was gegen mich, bin ich fest von überzeugt.

Der Rest der Reise verlief allerdings ohne nennenswerte Zwischenfälle. Allerdings weiß man erst den Komfort des ICEs zu schätzen, wenn man mal EC gefahren ist. Die war noch das am wenigsten Unangenehme. Dennoch sehr unangenehm. Der PVC-Boden in einem marmorierten blau, hässlicher Farbton, kombiniert mit einem absolut unpassenden anderen blau an der Wand und noch weniger passenden Blaukombination der Sitz-Stoffbezüge. Ansonsten nuanciert von schrecklichem Grau und schrillem Gelb. Um den Brechreiz zu überbrücken, habe ich mit meinem Handy ein Foto gemacht:

Wenn einem auf der Fahrt nichts anderes zu tun bleibt, als nachzudenken, weil man die Bücher, die man dabei hatte, schon gelesen hatte und für das Arbeiten keine Platz war, ist das nicht unbedingt angenehm. Zuerst denkt man über alle vergangenen Frauenbekanntschaften nach. Das macht einen unweigerlich traurig. Denn wenn es schön war, ist es vorbei. Und wenn es nicht schön war, war es nicht schön. Wenn man dann mit dem Thema durch ist, denkt man über seine Verwandtschaft, über Beruf und über Finanzen nach. Das macht die Sache auch nicht besser.